Elisabeth Dauthendey - Märchen von heute
rafften und schafften und häuften Gut auf Gut, aber es war kein Segen bei ihrer Arbeit, sie konnten sich ihrer Habe nicht freuen. Weil jeder nur für sich dachte und dem andern nichts gönnte, da er keine Liebe für ihn hatte, fürchtete jeder den andern, und es gab Zank und Hader unter ihnen, und allerlei Nöte fielen über sie her, da keiner dem andern helfen wollte. Und so kam Krankheit und Armut und Krieg über die Menschen. Auch die Tiere wurden wild und böse und brachen aus den Wäldern hervor und zerrissen die Menschen und das Vieh, das sie sich zu ihrem Nutzen gezähmt hatten. Sie zerstörten die Saat und die Felder, und so wurde die schöne blühende Erde wüst und öde, und die Menschen stöhnten und klagten und kannten ihr eigen Herz nicht mehr und wußten nicht mehr ein und aus. -- Da fand eines Tags ein Jüngling ein uralt verschollen Buch, und er las darin: Als die Liebe unter den Menschen wandelte, war die Erde herrlich und wohlgestalt, und ein golden Band hielt alles Geschaffene, verstanden einander und hatten einerlei Sprache und taten einander nur Gutes und hatten das Glück. „Was i s t das, die Liebe?“ fragte der Jüngling seinen Vater. „Die Liebe,“ s agte der, „das i st ein altes Märchen. Viele tausend Jahre weiß man nichts mehr von ihr. “ Da fragte er seine Mutter. „Die Liebe,“ sagte diese, und es kam eine Träne in ihr Auge, „das i st ein gar schönes Märchen, alle Mütter wissen, daß es einmal diese Liebe gab. Aber für uns ist sie nicht mehr da. “ Da fragte er das Mädchen, dem er gut war. Und die las mit ihm das uralte Buch, und ihre Herzen wurden warm und selig an den heiligen Worten. „Oh, wie wundervoll muß das gewe sen s ein!“ sagte das Mädchen. „Wollen wir die Liebe suchen? Wenn sie einmal auf Erden war, kann sie wiederkehren.“
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