Elisabeth Dauthendey - Märchen von heute

Wälder und auf die Berge. Und so verstanden sie sich bald gegenseitig nicht mehr. So wurde es immer leerer um den Tempel der Königin, die Menschen waren zu geschäftig geworden und vergaßen ganz, wem sie all ihr Glück zu verdanken hatten. Und je weiter die Menschen sich von dem Tempel der Liebe entfernten, desto kälter und härter wurden ihre Herzen. Sie fingen an, Neid und Groll aufeinander zu haben, und die Sprache, die ihnen die Liebe gebracht, daß sie damit sich Güte und Freude erweisen, verlor ihre Schönheit, und ihre Worte wurden rauh und böse, und sie kränkten einander, und zuletzt wurden auch ihre Hände wild und roh, und es kam Raub und Totschlag unter die Menschen, die bisher einträchtig wie Brüder zusammen gelebt hatten. Zuletzt verlernten sie auch ihre Sprache, und keiner verstand den andern mehr. Und wenn die heilige Nacht kam und die Königin wandelte durch die Straßen, um alle Kreatur zu segnen, da kam Scham oder auch Zorn über die Menschen, und sie verschlossen ihre Türen und Herzen und konnten den Segen der Liebe nicht mehr in ihrem Herzen fühlen. Und zuletzt wurden sie ganz böse auf die Liebe und schalten s ie. „Was will st du bei uns? Du störst uns in unsern Geschäften. Du machst unsre Herzen weich und linde und unsre Hände schwach. Aber wir brauchen rauhe Hände und starke Herzen, um das Gute der Erde an uns zu reißen und es festzuhalten, daß der andre es uns nicht nimmt. Da wurde die Liebe sehr traurig, neigte ihr schönes Haupt und weinte bitterlich. Aber das rührte die harten Menschen nicht, sie warfen mit Steinen nach ihr und verfolgten sie mit bösen Worten. Da kam plötzlich vom Himmel der blaue Wolkenwagen und nahm den weinenden Engel wieder in den Himmel zurück. Nun war der Tempel der Liebe leer. Und es wurde kalt und häßlich auf der Erde, und Finsternis und Elend kamen über die armen verblendeten Menschen. Sie

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