Elisabeth Dauthendey - Märchen von heute

„Steh auf und komm!“ sagte der Engel. Er hob die silberne Schale auf, und die Seele folgte ihm zitternd. Der Schwertengel nahm die Schale mit einem traurigen Blick und legte sie auf eine kristallene Wage. Die sank tief hinab. „Folge mir!“ sagte nun der Engel wieder. Und er öffnete die silberne Tür, und die Seele setzte sich auf den goldenen Stuhl, und vor dem großen, weiten Fenster lag ein herrlicher Garten. Die Vögel sangen, und liebliche Düfte lagen über den blühenden Blumen. Und zwischen den Bäumen wandelten frohe Gestalten. Wieder Vater und Mutter und Bruder und Schwester. Und eine Schar andrer, deren Antlitz die Seele kaum mehr erkannte. Sie zogen nacheinander am Fenster vorüber und grüßten die Seele mit strahlenden Augen, und jede sagte mit glücklicher Stimme von einem guten Wort, einer heimlichen Tat, einem warmen Trost, einem helfenden Blick, einer Opfergabe, die ihnen die Seele einst gegeben hatte. „Weißt du noch ? “ fragten s ie mit dankbarer Stimme. „Weißt du noch?“ Aber die Seele wußte es kaum mehr. Wie in weite Ferne mußte sie zurückgehen, und langsam kam Erinnerung um Erinnerung zu ihrem Herzen zurück, und sie lächelte selig, und Tränen der Freude strömten aus ihren Augen in die goldene Schale, die vor ihr stand. „Steh auf und komm!* sagte der Engel. Und er nahm die volle Schale. Die Seele folgte ihm bang und zitternd. Der Engel mit dem Schwerte legte die goldene Schale auf die andre Seite der kristallenen Waage. Da flog die Schale mit den Tränen der Reue hoch hinauf, denn die kostbare Last der Liebe wog viel schwerer als sie. Das Antlitz des Schwertengels strahlte wie leuchtendes Silber.

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