Elisabeth Dauthendey - Märchen von heute

„Er st mußt du zu deinen Erinnerungen einkehren, ehe ich dir auf diese Frage antworten kann.“ : Und er winkte dem Todesengel, der sie hergeführt, und sagte: „Bringe sie zu den Kammern der Erinnerung .“ Da erblickte die Seele zu beiden Seiten der Himmelstür zwei kleine Türen. Die eine war aus schwarzem Marmor, die andre aus hellem, leuchtendem Silber. „Tritt in die Kammer der Trauer,“ sagte der Todesengel und öffnete die dunkle Tür. Das Gemach, das sie betraten, war klein und fast leer. Es war nichts darin als ein Stuhl aus schwarzem Ebenholz; davor, auf einem niederen Tischchen, stand eine weite silberne Schale. „Nimm Pla tz und blick hinaus!“ sagte der Engel. Die Seele tat so und sah angstvoll hinaus durch das weite, große Fenster. Zuerst konnte sie nichts umher sehen als dunkle, wogende Wolken. Aber allmählich wurden diese lichter, und allerlei Gestalten kamen hervor und gingen langsam vorüber, gebeugt und traurig. Und jede der Gestalten hob ihre Augen zu ihr auf, wenn sie ganz nahe war, und jede fragte mit schmerzlicher Stimme: „Weißt du noch?“ Und die Seele erkannte eine nach der andern. Und alle fragten sie mit schmerzlic her Stimme: „Weißt du noch?“ Vater und Mutter kamen. Und Bruder und Schwester. Arme, Leidbeladende, Hilfesuchende. Unschuldige Kinder, Krüppel und Dienende, und alle fragten sie mit vorwurfsvoller Stimme: „Weißt du noch?“ Ach, die arme Seele wußte wohl. Ganz nahe stand jede Schuld an ihrem Herzen. Jedes bittere Wort, das sie gegeben; jede schnelle Ungeduld und harte Absage; alle herzlosen Urteile und aller unbedachte Spott, alles kehrte wieder zu ihr zurück, bitter und peinvoll und herzzerbrechend.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjA3NjY=