Elisabeth Dauthendey - Erotische Novellen
Die feine Harfe Anja – Ja, wenn ich an sie denke, steigen mir Tränen einer traurigen Rührung in die Augen. Und doch war sie glücklich, und ihr Leben stand wie ein seltener Stern über der Erde. Ich kannte ihre Eltern. Als alter Hausfreund ging ich viele Jahre in ihrem Hause aus und ein. Der Vater, ein Kaufherr größten Stils, war einer jener prachtvollen jovialen Männergestalten, die von einer steten Harmonie umschwebt sind. Wo sie sich befinden, weht eine kraftvolle, heitere Temperatur, die in diesem Falle, gesättigt von leutseliger Lebensauffassung und getragen von der Sicherheit eines großen Reichtums, leicht zu jenen Höhegraden zu steigen geneigt war, welche in ihrem Überschwange allmählich auch die stärksten Lebenskräfte aufzehren. Kurz, ein Bonvivant, ohne jene gemeine Nuance, die wir mit dem deutschen Worte Lebemann verbinden. Seine Frau paßte vorzüglich zu ihm. Groß, schön und stattlich, harmonisch in sich beruhend, trug sie seine etwas laute, andrängende Art mit liebevoller Gelassenheit und pflegte in ihrem Heim mit Aufopferung ihrer eigenen, mehr zu intimerem Innenleben neigenden Wünsche die weitherzigste Gastfreundschaft, die ihre Kräfte und Zeit schier über Gebühr beanspruchten. Mitten hinein in dieses turbulente Treiben blühte Anja, die einzige Tochter dieses Paares. Im Gegensatz zu den Eltern war sie feingliedrig und nur mittelgroß geraten und bildete den süßen, lieblichen Ausklang zwischen den dunkleren, volltönigen Melodien der beiden. Anja war eines jener reizvollen Kinder, die jedermanns Liebling sind, die aller Augen und Herzen sofort für sich einnehmen. Ohne jede Hemmung durch allzu strenge Zucht, noch irgendwelcher Notstände des Lebens, entwickelte sie sich in einer seltenen Freiheit und strafte alle rigorosen Pädagogen Lügen, die nur innerhalb des Stacheldrahtes von Ernst und Strenge eine gute Aufzucht gewährleisten wollen. Sie gedieh körperlich und geistig, blühte wie eine zarte Gartenrose, war geschickt zu allerlei Tun, neigte aber ganz besonders zu Büchern, Künsten und Wissenschaften; dem tändelnden Spiel der allerersten Jugend war sie sehr schnell entwachsen. Ich konnte ihr keine größere Freude machen, als wenn ich mit ihr in das Bibliothekzimmer ging und ihr dort allerlei Bücher aussuchte, die jeweils ihrem geistigen Zustand angemessen waren. Die Eltern sahen diese Entwicklung nicht gern. Sie hätten sich die einzige Tochter robuster an Gesundheit und materieller in der Lebensrichtung gewünscht, zugreifender nach all der endlosen Fülle guter Dinge, die ihr
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